Columbine ist überall (2024)

Von Tom Noga·19.04.2009

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20. April 1999: Eric Harris und Dylan Klebold stürmen schwerbewaffnet in die High School von Littleton in Colorado. Sie töten zwölf ihrer Mitschüler und einen Lehrer, bevor sie sich selbst das Leben nehmen. Der Amoklauf von Littleton wird zur Blaupause für spätere Schulmassaker.

Aus dem PodcastDie Reportage

Frank de Angelis: "Am 20. April 1999 saß ich hier in meinem Büro, es war 20 nach 11, 5 vor halb 12. Meine Sekretärin kam herein gerannt: "Da ist eine Schießerei in der Schule!" Ich ging nachsehen und mein schlimmster Albtraum wurde war: Ich lief direkt hinein in die Schüsse. Einer der beiden Amokläufer kam mir entgegen, er hatte eine Schrotflinte in der Hand. Er trug eine Baseballkappe, verkehrt herum, schwarze Jeans, ein weißes, abgeschnittenes T-Shirt und darüber eine Weste. Ich erinnere mich nur noch, wie er auf mich schoss und das Fenster hinter mir unter den Kugeln zerbarst."

Frank de Angelis ist klein und untersetzt. Er trägt einen ausgebeulten marineblauen Anzug, seine schwarzen Haare werden an den Schläfen langsam grau. De Angelis ist der Rektor von Columbine. Das ist er auch am 20. April 1999 gewesen, als diese Schule mit dem Amoklauf der beiden Schüler Dylan Klebold und Eric Harris traurige Berühmtheit erlangt hat. Er öffnet die Tür des Verwaltungstrakts.

Frank de Angelis: "Hier kam ich also raus, von dort kamen mir die Amokläufer entgegen. Und sie schossen in die Glastür, durch die wir gerade gekommen sind."

De Angelis deutet auf einen breiten, mit Linoleum ausgelegten Gang. "Through this hall walk the finest kids in America", steht darüber: "Durch diesen Flur wandeln die besten Kinder Amerikas." In zwei Vitrinen sind die Pokale der Schulmannschaften ausgestellt. Der erste stammt aus dem Jahr 1991, mit Frank de Angelis als Trainer.

Der Rektor geht durch den Flur. Es ist kurz nach elf am Vormittag – wie damals. Links und rechts strömen Schüler aus den Klassenräumen. Vor einem Seitengang hält de Angelis an. Statt weiter auf ihn zu schießen, haben die Amokläufer plötzlich in diesen Flur gefeuert.

Frank de Angelis: "Ich habe das erst nicht verstanden. Später habe ich erfahren, dass der Lehrer Dave Sanders in jenem Moment hier herauskam. Sie legten auf ihn an und schossen ihm in den Rücken. Sanders ist seinen Wunden erlegen. Das war sehr schwer für mich, ich hatte lange mit Schuldgefühlen zu kämpfen."

Eine Treppe führt in die Cafeteria, einen hellen Raum mit zwei Dutzend Tischen, an denen 20, 30 Schüler sitzen. Die Fenster reichen bis auf den Boden und bieten einen grandiosen Panoramablick auf die verschneiten Gipfel der Rocky Mountains.
Frank de Angelis: "Über diese Treppe sind sie hoch gegangen. Vorher hatten sie in der Mitte des Raumes zwei Bomben platziert, hier, wo jetzt diese beiden Mülleimer stehen. Damals sind rund 600 Kinder in der Cafeteria gewesen. Der Plan war, dass die Bomben möglichst viele von ihnen töteten. Die Überlebenden würden raus rennen, und die Beiden säßen dort und könnten das Feuer auf die Flüchtenden eröffnen."

Der Rektor seufzt. Er setzt sich an einen der Tische. Die Schule hat noch Glück gehabt am 20. April 1999, wenn man das überhaupt so sagen darf. Außer dem Lehrer David Sanders haben die beiden Amokläufer zwölf Schüler getötet und 23 teils schwer verletzt, zwei von ihnen sind an den Rollstuhl gefesselt.

Es sind nicht Zahlen, die Columbine so unbegreiflich machen, sondern die Brutalität der Ausführung und die eiskalte Planung. Das hat Columbine zur Blaupause für spätere Schulmassaker gemacht, von Platte Canyon oben in den Bergen Colorados bis zum Virgina Tech in Blacksburg, von Osaka in Japan bis Jokela in Finnland, von Erfurt bis Winnenden vor vier Wochen.

Deshalb muss man über Columbine reden, findet Frank de Angelis. Und weil Schulmassaker immer auch auf die Lehranstalt zurückfallen, an der sie geschehen.

Frank de Angelis: "Wenn wir mit dem Wissen von heute, zehn Jahre danach, auf die Fakten blicken, ist offensichtlich, dass es Warnzeichen gab. Aber wir müssen uns in die damalige Situation versetzen. Es gab ein paar einzelne Hinweise. Zum Beispiel einen Gewalt verherrlichenden Schulaufsatz. Der Klassenlehrer hat das gemeldet, die Eltern wurden darüber informiert, es wurde besprochen. Es gab einen Einbruch. Eric Harris hat eine Todesliste auf seiner Internetseite veröffentlicht. Ein Elternpaar hat die Polizei darüber informiert, aber an uns wurde das nicht weitergegeben. Klebold und Harris haben eine Rohrbombe gezündet, hinter der Pizzabude, in der sie gearbeitet haben. Auch davon wussten wir nichts."

Frank de Angelis schüttelt traurig den Kopf. Das ist wie mit einem Puzzle: Erst wenn alle Teile am richtigen Platz liegen, erkennt man das Gesamtbild, vor allem, wenn es so verstörend ist und die Vorstellungskraft von Lehrkörper, Mitschülern, Eltern und Polizei überfordert.

Auch Crystal Woodman, verheiratete Miller, hat das Gesamtbild nicht gesehen. Die ehemalige Schülerin ist während des Massakers mit über 30 Mitschülern in der Bibliothek gewesen. Zehn Schüler haben dort den Tod gefunden, zwölf weitere Verletzungen davongetragen.
Crystal Woodman: "Ich war vielleicht seit fünf Minuten dort, als ich ein Chaos bemerkte, innerhalb und außerhalb der Schule. Ich hörte Krach und Geschrei. Ich sah Schüler mit panischen Gesichtern durch die Halle laufen, sich schubsend, um möglichst schnell raus zu kommen. Eine Lehrerin kam in die Bibliothek gerannt, sie war außer sich: "Da sind Typen mit Waffen, sie schießen auf Schüler! Versteckt Euch unter den Tischen! Sie lief zum Telefon und rief die Polizei an. Als sie den Hörer abnahm, blickte ich zur Tür und sah, wie ein Freund von mir zu Boden fiel. Er hielt sich die Schulter, dann nahm er die Hand weg, um sich aufzurichten, und man sah, dass er angeschossen worden war."

Siebeneinhalb Minuten kauert Crystal unter einem der Tische, während um sie herum Bomben explodieren und die beiden Amokläufer wahllos Menschen erschießen: Einen afroamerikanischen Jungen wegen seiner Hautfarbe, einen anderen, weil er eine Brille trägt.

Crystal Woodman: "Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, wie es wohl ist, erschossen zu werden: Sterbe ich schnell oder muss ich lange leiden? Gewalt kannte ich doch nur aus Filmen, und dies hier war etwas ganz anderes. Dann redeten die Beiden darüber, dass ihnen die Munition ausgeht, sie hatten sie wohl woanders in der Schule gebunkert. Sie gingen raus und wir fingen an zu rennen. Erst jetzt bemerkte ich, dass die Bibliothek komplett zerstört war, es sah aus wie im Krieg, überall Feuer und Glassplitter. Rauch lag in der Luft, man konnte kaum etwas sehen, und es schmerzte n den Augen und im Hals. Ich musste buchstäblich über die Leichen meiner Freunde und Klassenkameraden steigen, um mich zu retten."

Crystal Woodman sitzt in der Küche ihres Hauses in der Nähe von Oklahoma City. Eine junge Frau von 26 Jahren mit langen brünetten Haaren, blauen Augen und offenem Lächeln. Sie setzt einen Tee auf, während im Fernsehen ein Nachrichtensender läuft. Immer wieder blickt sie hinüber.

Dass sie überhaupt hier sitzt, hat sie sich hart erarbeitet. Fünf Jahre lang ist sie in Therapie gewesen, hat gegen Angstzustände, Panikattacken und Aggressionsschübe angekämpft.

Crystal Woodman: "Zwei Jahre lang hatte ich jede Nacht Albträume, sehr gewalttätig, sehr bildhaft. Nicht über Schulmassaker, ich habe geträumt, vergewaltigt zu werden oder entführt oder verfolgt, und ich war unfähig zu schreien oder wegzurennen. Diese Angst hatte mich lange im Griff. Wenn man eine solche Tragödie erlebt hat, kann man die Erlebnisse nicht verarbeiten. Man verdrängt sie, aber irgendwann kommen sie zurück. Deshalb musste ich in der Therapie wirklich jedes Detail ausgraben. Dieses intensive Erinnern war wirklich befreiend."

Crystal lehnt sich zurück. Heute kann sie von früher erzählen – mit fester, sachlicher Stimme. Doch sobald die Wirklichkeit in ihr Leben hereinbricht wie mit dem Amoklauf von Winnenden, fällt der Schutzschild.

Crystal Woodman: "Wann immer eine ähnliche Tragödie passiert, bricht es mir das Herz. Ich weiß ja, was das für eine Stadt bedeutet. Die nicht zu beantwortende Frage nach dem Warum, die Bestürzung, der seelische Schmerz."

Wie Crystal geht es den meisten Überlebenden und Angehörigen von Columbine. Auch knapp zehn Jahren danach lässt die Erinnerung kaum einen los, fast zwanghaft beschäftigen sie sich immer wieder mit der Tragödie. Sie hat ein Buch geschrieben, über ihren persönlichen Heilungsprozess und wie ihr Glaube ihr dabei geholfen hat. Es ist eines von einem Dutzend Büchern zwischen Selbsttherapie und dem verzweifelten Versuch, das Unerklärliche zu erklären und dem Geschehen nachträglich einen Sinn zu gebe.

Crystal nippt an ihrem Tee. Natürlich hat auch sie nach den Gründen geforscht. Sie erzählt vom Waffenkult in den USA, von Mobbing in der Schule, von Gewalt verherrlichende Videospielen und Eltern, die sich zu wenig oder gar nicht um ihre Kinder kümmern. Dylan Klebold, einen der beiden Amokläufer, hat sie noch von der Grundschule gekannt. Sie erinnert sich an einen hochintelligenten Jungen, der schon früh in Förderprogramme gesteckt worden ist. Hat ihn das von klein auf zum Außenseiter gestempelt?

Plötzlich hält Crystal inne. Je mehr sie redet, umso unbegreiflicher scheint ihr das Geschehen auch zehn Jahre danach zu werden.

Crystal Woodman: "So was passiert doch nur in der Innenstadt, dort gibt es Gangs und eine hohe Kriminalitätsrate. Aber doch nicht in einer sicheren, unschuldigen Vorstadt."

Zurück nach Columbine. Randy Brown steht auf einem Hügel im Clement Park.

Randy Brown: "Das ist die Gedenkstätte für die Opfer, sie ist gepflastert und besteht aus Backstein. In der Mitte ist ein Stein im Form eines Bandes in den Boden eingelassen mit der Inschrift "unvergessen". In einem äußeren Ring stehen Steintafeln mit dem, was Fremde zu sagen hatten, im inneren die Erinnerungen der Familien an ihre getöteten Kinder und an Dave Sanders, den Lehrer. Ein paar sinnstiftende Sätze über die Opfer."

Die Inschriften sind tieftraurig, man spürt in jedem Wort wie schmerzhaft der Verlust ist, den diese Familien erlitten haben.
Randy Brown nickt. Er ist groß und kräftig und Makler von Beruf. Ein schönes Denkmal, sinniert er und blickt sich um. Am Fuß des Hügels die Schule, ein nüchterner Zweckbau mit einem Dutzend Sportplätzen. Drumherum schmucke Mittelklasse-Siedlungen und breite, nie verstopfte Straßen mit Bürgersteigen und Radwegen. Und der Park mit dem künstlichen See in der Mitte ist adrett und sauber. In Columbine hat sich der Amerikanische Traum von einem Leben in Wohlstand und Sicherheit scheinbar erfüllt.

Randy Brown: "Deshalb untergräbt dieses Massaker unsere Welt, es zerstört unsere Träume und macht alles, was uns wichtig ist, zur Farce."

Randy tritt in den inneren Ring mit den Inschriften der Familien.

Randy Brown: "Lassen Sie uns zu Isaiah rüber gehen. Wo ist seine Gedenktafel noch mal? Die Inschrift darauf ist von seiner Tante. Ich muss noch diesen großartigen Satz finden. Ah, hier: 'Er würde wollen, dass Ihr das Licht seht. Dass Ihr die Waffen zur Seite legt, den Hass, die Vorurteile und den Stolz und das wunderschöne Licht der Liebe seht.' Ein unglaublicher Satz."

Randy Brown blickt gerührt zu Boden. Isaiah Shoels ist der afroamerikanische Junge, den die Amokläufer wegen seiner Hautfarbe erschossen haben. Randy hat ihn gekannt, er hat auch Dylan Klebold gekannt, einen Freund seines Sohnes Brooks. Er ist der Vater, der Eric Harris, den anderen Amokläufer, ein Jahr vor der Tat angezeigt hat, weil der im Internet Todesdrohungen gegen Brooks ausgestoßen hatte.

Erst nach dem Schulmassaker erfährt Randy, dass die Polizei zwar einen Durchsuchungsbefehl erwirkt, aber nie vollstreckt hat. Und er muss mit ansehen, wie der Bezirks-Sheriff seinen Sohn öffentlich als Mitwisser, wenn nicht Mittäter verdächtigt.

Randy Brown: "Wir wurden als Komplizen dargestellt, so wurden auch wir zu Opfern, auch wenn wir kein Kind verloren haben. Das waren zwei sehr schmerzhafte Jahre, wir wurden regelrecht gehasst. Wir gingen zum Beispiel zum einer Talentshow, bei der unser jüngster Sohn Klavier spielte. Wir saßen in der ersten Reihe und die drei Plätze rechts und links und die fünf hinter uns bleiben leer. Die Leute standen lieber im Gang als in unserer Nähe zu sitzen. Niemand wollten etwas mit uns zu tun haben."

Die Anschuldigungen haben sich schließlich als haltlos erwiesen, doch Randy Browns Wut ist bis heute nicht verraucht. Was genau damals geschehen ist, lässt sich nicht mehr rekonstruieren: Sämtliche Akten sind verschwunden. Er wittert ein Komplott, um zu verhindern, dass die Eltern der Opfer die Gemeinde verklagen.

Matthew Kechter, Rachel Scott, Tom Mauser – auch sie hat Randy Brown gekannt. Er verharrt einen Moment vor ihren Gedenktafeln und schreitet dann den äußeren Ring des Denkmals ab. Auf einer Tafel drückt Bill Clinton sein Mitgefühl aus, damals der amtierende Präsident. Die meisten Inschriften sind anonym.

Randy Brown: "Die ist von einem Elternteil: 'Ich hoffe, die Leute kommen hier her und denken nicht über den Tod nach, sondern darüber, wie sie bessere Menschen werden.' Daneben die Tafel eines Schülers."

Und daneben die eines namentlich genannten Lehrers.

Vorlesen möchte Randy die Inschrift nicht. Dieser Ort, heißt es darin, ist allen Opfern gewidmet, allen Verletzten und deren Familien, allen Schülern, dem Lehrkörper und der gesamten Gemeinde – "wir alle sind Columbine". Randy Brown lacht höhnisch auf.

Dann erzählt er die andere Geschichte Columbines. Vom Versagen der Polizei am Tatort. Erst nach über drei Stunden, die Täter haben ihre Waffen längst gegen sich selbst gerichtet, stürmt ein Spezialkommando die Schule. Zumindest der Lehrer Dave Sanders hätte durch schnelleres Eingreifen gerettet werden können. Warum hat die Polizei so lange gezögert? Und was wird noch alles vertuscht? Randy Brown verlangt Antworten. Er kämpft um die Freigabe der Ermittlungsakten und der sogenannten "Basem*nt Tapes", der Videos, die Klebold und Harris von sich selbst aufgenommen haben.

Und er erzählt die Geschichte der Täter, wie er sie sieht. Wie andere Schüler sie systematisch drangsaliert und gehänselt, wie sie ihnen das Kantinentabletts aus den Händen geschlagen und sie in Spinde eingeschlossen haben.

Randy Brown: "Sie waren das Produkt ihrer Umgebung. Wir kannten Dylan, er war oft bei uns zu Hause. Er war 1 Meter 85, vielleicht 1,90 groß, dünn, unbeholfen, unkoordiniert. Ein netter, empfindlicher Junge, mit einem Hang zum Depressiven. In der Hackordnung der Schule stand er ganz unten. Oben sind die Sportler, die Football- und Baseball-Spieler und Basketballer. Ganz unten sind die Kinder aus der Theatergruppe, zu denen auch mein Sohn Brooks gehörte. Sie wurden als Schwuchteln verspottet. Dylan war ihr Sound- und Licht-Mann, er stand also noch weiter unten als sie. Und Eric war klein, sogar die Mädchen konnten ihn verprügeln. Die Beiden waren leichte Opfer."

Randy Brown lässt seinen Blick hinunter auf die Schule am Fuß des Hügels schweifen. In einem solchen Klima gedeiht Hass. Und irgendwann sucht er sich ein Ventil.

Randy Brown: "Ich will die beiden nicht als Helden darstellen, sie waren die größten Schurken aller Zeiten, weil sie unschuldige Kinder bestialisch umgebracht haben. Aber wenn sie eine Botschaft für uns hatten, dann diese: Tyrannisier’ mich ruhig, irgendwo da draußen läuft einer rum, der ist stärker als du."

Noch einmal wendet sich Randy Brown dem Denkmal zu. So steht er da, einen Minute lang in stillem Gedenken. Dann geht er den Hügel hinab.

Tom Mauser sitzt in einem Café in der Innenstadt von Denver, ein Mann mit schütterem Haar und traurigen Augen. Vor sich einen Milchkaffee und ein Sandwich. Mauser arbeitet im Verkehrsamt der Metrople Denver, dies ist seine Mittagspause. Sein Sohn Daniel ist in der Bibliothek von Columbine erschossen worden, weil er eine Brille trug. Ein schrecklicher Gedanke, den Tom Mauser bis heute nicht fassen kann. Wenige Tage nach dem Massaker hat er eine Gedenkseite ins Internet gestellt:

Tom Mauser: "Ich wusste, dass die Medien sich auf die Mörder fokussieren und jeder ihre Namen kennen würde, aber niemand würde über Opfer sprechen. Dagegen wollte ich etwas tun. Ich wollte, dass die Menschen sich an Daniel erinnern. Er war nicht nur eine Zahl für die Statistik, nicht nur ein Name oder ein Foto in der Zeitung. Er war ein Mensch, er hatte eine Zukunft und er hat uns 15 wunderbare Jahre seines Lebens geschenkt. Davon wollte ich erzählen. Daraus entstand ein reger Briefwechsel mit vielen Menschen. Und das wiederum war ein wichtiger Teil des Heilungsprozesses."

Andere Eltern haben ihnen nachgemacht und ebenfalls Gedenkseiten ins Netz gestellt. Ein Jahr nach Daniels Tod haben Tom und seine Frau Linda ein Mädchen adoptiert. "Um ihr die Liebe zu schenken, die wir Daniel nicht mehr geben können", wie Tom sagt. Vielleicht hat das die Familie zusammengehalten. Viele Ehen sind nach der Tragödie zerbrochen, die Mutter eines an den Rollstuhl gefesselten Opfers hat unter der Last der Schuldgefühle Selbstmord begangen, viele Angehörige sind bis heute in therapeutischer Behandlung. "So eine Tat produziert Opfer", sagt Tom Mauser. "auch nach zehn Jahren noch." Neben seiner Arbeit engagiert er sich für schärfere Waffengesetze.

Tom Mauser: "Ich habe zehn Tage nach Columbine damit angefangen. Die National Rifle Association hat damals ihr Jahrestreffen ausgerechnet in Denver abgehalten- zehn Tage nach dem Massaker. Es kam zu Protesten, und ich habe beschlossen, dabei mitzumachen."

Tom Mauser beißt in sein Sandwich. Die Proteste haben nichts genützt, die Versammlung der mächtigen Lobby der Waffenbesitzer hat trotzdem stattgefunden. Mit dem Schauspieler Charlton Heston, damals der Vorsitzende der NRA, auf der Bühne, ein Gewehr in den ausgestreckten Händen und seinen wohl berühmtesten Satz auf den Lippen: "Wer es mir wegnehmen will, muss es meinen kalten, toten Hände entreißen."

Was für ein Mangel an Pietät - Tom Mauser schüttelt sich vor Ekel. Für ihn sind die Proteste nur ein Anfang gewesen. Ein paar Lücken in den Waffengesetzen Colorados sind auf seine Initiative per Volksentscheid geschlossen worden. Nun kämpft er dafür, dass Eltern haftbar gemacht werden können, wenn Minderjährige Zugang zu Schusswaffen haben. Eine gespenstisch Parallele zu Winnenden.

Überhaupt, die Eltern. Sie müssen viel mehr in die Verantwortung genommen werden, findet Tom Mauser. Auch deshalb hat er den Kontakt zu den Klebolds und Harris gesucht.

Tom Mauser: "Ja, ich habe sie kontaktiert.... aber darüber möchte ich nicht reden. Ich schreibe ein Buch, darin werde ich berichten, wie ich mit den Eltern der Täter gesprochen habe. Ich werde über Vergebung sprechen, den Weg zur Vergebung. Das ist ein Buch über Columbine, wie ich es erlebt habe. Wie ich Daniels Spuren gefolgt bin, was ich in seinem Gedenken gemacht habe und wie die letzten zehn Jahre waren. Jemand hat mir mal geschrieben: Was wir machen, soll unseren Kindern als Leitlinie dienen, damit sie unseren Spuren folgen können. Aber ich folge den Spuren meines Sohnes."

Tom Mauser bezahlt seinen Kaffee und das Sandwich, die Mittagspause vorbei.

Nachmittags vor der Columbine High School. Der Unterricht ist vorbei, die Eltern holen ihre Kinder ab. Reihenweise fahren Autos der gehobenen Mittelklasse vor, mindestens. Rektor Frank de Angelis steht im Eingang und schaut dem Treiben zu. Wie die meisten Betroffenen hat er auch sich längere Zeit therapeutisch behandeln lassen, so gesehen ist auch er ein Opfer. Bis heute lässt ihn das Massaker nicht los. Als einer der wenigen hat er die Erlaubnis erhalten, die Videos der Mörder zu sehen

Frank de Angelis: "Es war der schockierend. Harris war ein Psychopath, das wurde d im Video klar. Sie haben die Basem*nt Tapes Monate vor der Tragödie aufgenommen, sie besprechen darin, wen sie alles töten wollen. Sie haben alle gehasst, Gläubige, alle ethnischen Gruppen, Rassisten – viele ihrer Ansichten waren widersprüchlich. Es war erschreckend, ihnen zuzuhören. Aber was Klebold und Harris wirklich angetrieben hat, das ist die Millionenfrage."

Heute ist Columbine viel besser auf Problemkinder wie diese beiden vorbereitet, versichert de Angelis auf dem Rückweg in sein Büro. An der Schule gilt eine Politik der null Toleranz: Wer Gewalt ausübt oder verherrlicht fliegt. Ein in Gewaltprävention fortgebildeter Lehrer fungiert als Ansprechpartner in Problemfällen. "Wir haben alles Menschenmögliche getan", sagt der Rektor, "aber ein Restrisiko bleibt." Wer es noch weiter ausschließen will, muss die Schule abriegeln, mit Metalldetektoren ausstatten und Sicherheitspersonal einstellen. Natürlich ginge das.

Frank de Angelis: "Aber von einer sicheren Schule zu einer Festung ist es nur ein kleiner Schritt. Wollen wir wirklich, dass unsere Kinder in Schulen unterrichtet werden, in denen bewaffneten Wärter patrouillieren? Sollen Schulen so aussehen? Und hätte das die Amokläufer hier wirklich gestoppt?"

De Angelis lässt diese Fragen im Raum stehen, wie seine Antwort ausfällt, ist klar. Er zieht einen Schlüsselbund aus der Tasche und öffnet einen Briefkasten vor seinem Büro. Darin können Schüler ihm Auffälligkeiten melden, anonym, versteht sich. Der Briefkasten ist leer, wie meistens. Das wertet er als gutes Zeichen.

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Author: Eusebia Nader

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Name: Eusebia Nader

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